Meine Studienzeit bei Hans Leistikow

AutorIn
Hans Hillmann
Erscheinungsjahr
2000
Quelle
Kühnel, Anita (Hg:): »Die Poesie des Konkreten - Plakate und Graphik der Kasseler Schule«, Kunstbibliothek Staatlich Museen zu Berlin, 2000

Hans Leistikow begegnete ich zum ersten Mal, als ich mich 1949 zur Aufnahme in seine Klasse an der damaligen Werkakademie bewarb. Nachdem er zunächst schweigend meine Mappe angesehen hatte, sagte er, dass aus mir vielleicht ein Karikaturist werden könnte. Viele Jahre später, als ich seine Nachfolge antrat, fand ich in dem mir überlassenen Atelier eine Sammlung von Ausrissen aus dem New Yorker. Er hatte eine Vorliebe für die Lakonie des angloamerikanischen Humors, die ich inzwischen teilte, ebenso wie seine besondere Wertschätzung der CaIlot’schen Stiche zur Commedia dell’Arte.

Die erste Aufgabe, die ich nach erfolgter Aufnahme in seine Klasse vorfand, war sehr lapidar formuliert: Der Wald. Zu diesem Thema war ein Plakat zu entwerfen. Nach längerem Überlegen und zahlreichen Skizzen kam ich zu dem Ergebnis, dass es dafür eigentlich nur eine Lösung geben könnte: Ein Einblick in einen dichten Wald, mit dicken Stämmen und vielen Blättern. Als wir unsere Entwürfe – alle in DIN A1 gemalt – zur Korrektur aufgehängt hatten, sah ich, dass fast jedem der damals etwa zwanzig Studenten völlig andere, sehr überzeugende und mich überraschende Ideen dazu eingefallen waren. Ich nahm mir sofort vor, das nächste Mal eine ganze Anzahl verschiedener Entwürfe zu produzieren.

Dass man von seinen Mitstudenten viel lernt, war eine der ersten Erfahrungen, die ich in der Klasse Leistikow machte; dass ich mich dessen so deutlich erinnere, liegt sicher auch daran, dass ich mit dieser ersten Teilnahme an der Arbeit der Klasse mich einem inoffiziellen, jedoch nicht minder wichtigen zweiten Teil meiner Aufnahmeprüfung aussetzte. Die Erinnerung an meine ersten Studienjahre ist für mich zugleich ein Rückblick in eine Zeit, die inzwischen nahezu fünfzig Jahre hinter mir liegt; die — wie alte Fotos, die man aus einer vergessenen Ecke hervorkramt, plötzlich mit allen Details wieder deutlich werden — die ehemalige Kaserne, in der die Hochschule untergekommen war, die aufs Haar einer anderen glich, in der ich wenige Jahre davor auf meine Abstellung nach Russland wartete, in einer Stadt, die ausgerechnet Siegen hieß. Wir wussten, was damals griffbereit in den Flurnischen gestanden hatte, die man jetzt Vitrinen nannte und in denen die sog. Handschmeichler-Holzplastiken der Studenten Ernst Röttgers ihren Platz hatten. Eine weitere Momentaufnahme ist die morgendliche Begegnung mit einem Mitstudenten, der im Krieg ein Bein verloren hatte und an seiner Krücke eine Fahrradklingel angebracht hatte, die er betätigte, wenn ihm jemand auf dem Flur entgegenkam. In der Klasse wurde meist fleißig gearbeitet, eigentlich lebte man dort, die Ess-Sachen waren teils in den Doppelfenstern, teils in den Tischschubladen verstaut, zusammen mit den Zeichenutensilien.

Da es zu jener Zeit keine Werkstätten wie etwa Typographie oder Fotografie gab, spielte sich unser Graphikerdasein ziemlich ausschließlich an unseren Arbeitstischen ab. Gelegentlich wurde gemeinsam gesungen und selbstverständlich konnte das allen geläufige Liedgut nur aus der hinter uns liegenden Zeit stammen, was uns nicht störte, da wir es nur als Rohmaterial benutzten: die vereinbarte Regel war, dass jeder möglichst falsch gegen die Stimmlage der anderen singen sollte. Wir nannten es A-Tonal singen, und fanden das entstehende Gejaule so unwiderstehlich komisch, dass unsere musikalischen Einlagen nie lange durchzuhalten waren und stets im Gelächter untergingen. Leistikow, der, nur durch eine Wand von uns getrennt, in seinem Raum arbeitete und das ganze nur wiederum verzerrt wahrnehmen konnte, kam eines Tages erfreut zu uns herüber: Er hatte den Eindruck, wir sängen Choräle.

Für unsere Klassenaufgaben gab es gemeinsame Besprechungen, für einzelne Projekte und Aufträge gesonderte Korrekturen. Zwischendurch kam Leistikow, um mit jedem einzeln über den Fortgang der jeweiligen Arbeit zu sprechen. Reizvoll oder gar sehr reizvoll war ein ausgesprochenes Lob, auch appetitlich war recht ermutigend. Der Meister – wie wir ihn unter uns respektvoll nannten, war eher zurückhaltend und wortkarg, doch nüchtern und präzise in seinen Kommentaren. Das wenige, was er sagte, blieb besser haften als es lange, umständliche Erörterungen vermocht hätten. Einmal erzählte er uns von seiner Studienzeit in Breslau, wo ein Professor die Ergebnisse seiner Schüler derart gründlich verriss, dass diese eine Weile brauchten, um sich davon zu erholen. Dann jedoch erfolgte die nächste Korrektur, in ähnlich vernichtendem Ton. So etwas wollte er uns nicht antun. Die Gespräche waren stets höflich, sachlich, im privaten Kontakt ausgesprochen herzlich. Wir gestanden ihm nicht nur fachlich, sondern auch persönlich eine ausgesprochene Autorität zu, was nach den Erfahrungen der vorhergegangenen Jahre nicht eben selbstverständlich war.

Da es zu jener Zeit noch kein Bafög oder vergleichbare Unterstützung gab und die meisten von uns ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten mussten, beschaffte er Aufträge, an denen wir während des Semesters oder in der vorlesungsfreien Zeit arbeiteten und von denen wir unser nächstes Semester finanzieren konnten. Die Aufträge waren meist Ausstellungsvorhaben, mit denen Städte oder Institutionen die Pläne für den Wiederaufbau der Öffentlichkeit vorstellen wollten.

Die Darstellungen bestanden zumeist aus Landkarten, Stadtplänen, Statistiken sowie aus erläuternden Sachillustrationen, die mit Hand auf grundierte Platten aufgebracht wurden, einschließlich der Schrift, bei der wir überwiegend mit selbstgeschnittenen Schablonen arbeiteten. Dabei lernte man neben dem Umgang mit Techniken und Materialien, wie man die für Laien oft schwer ablesbaren Planungsunterlagen verständlich darstellt, also verschiedene Informationen durch Zeichen, Farben oder Abstufungen einerseits deutlich voneinander abheben, andererseits zu einem gut wahrnehmbaren Ensemble zusammenfügen kann, eine Fähigkeit, die seit langem im Graphik-Design eine wichtige Rolle spielt.

Von seinem damaligen Assistenten erfuhr ich, dass Leistikow an diesen Aufträgen so gut wie nichts verdiente. Als einmal eine Rechnung vom Auftraggeber beanstandet wurde, wies Leistikow durch penible Auflistung aller durch Studentenhonorare, Materialien etc. entstandenen Kosten nach, dass für ihn etwa 50,- DM übrig geblieben waren und fügte handschriftlich an: Mühsam nährt sich das Eichhörnchen, denn eine jede Ernte bringt auch taube Nüsse.

Als vergnügliche Unterbrechungen des Studienbetriebs empfanden wir die Spaziergänge in der Wilhelmshöhe mit anschließender Einkehr im Café, zu der Leistikow die Klasse gelegentlich einlud. Es war vermutlich während eines solchen Ausflugs, dass mir erstmals die im 19. Jahrhundert mit viel Sorgfalt in einem Zustand romantischen Verfalls errichteten Bauwerke im Wilhelmshöher Park zu Augen kamen. Vielleicht musste man im so gründlich zerbombten Kassel gelebt haben, um die Verblüffung nachzuvollziehen, die mich damals beim Anblick dieser künstlichen Ruinen überkam.

Eines der wichtigsten Ereignisse meiner Studienzeit war die Anfrage des Göttinger Filmverleihs Neue Filmkunst an Leistikow, ob er mit seiner Klasse für sie Filmplakate entwerfen wollte. Leistikow sagte zu und im Lauf der folgenden zwei Jahre entstand eine Reihe von Plakaten, die im Klassenwettbewerb entworfen und von Leistikow und Werner Schwier, dem künstlerischen Leiter des Verleihs, juriert und dann realisiert wurden.

Das Plakatmachen wurde damals in besonderem Maß als eine Art Prüfstand für Graphik-Designer angesehen und spielte auch in der studentischen Beteiligung an öffentlich ausgeschriebenen Wettbewerben eine entsprechend wichtige Rolle. Jedoch im Unterschied zu den dort zu bearbeitenden Themen wie etwa Gartenschau, Architektur-Kongress oder Planungs-Ausstellung erschien mir die Aufgabe, für einen interessanten Spielfilm ein visuelles Zeichen zu erfinden, als eine Herausforderung, die mich ausgesprochen begeisterte. Dazu muss man sich ins Gedächtnis zurückrufen, dass die Bundesrepublik damals eine Art KinoWüste war, in der das uns heute selbstverständliche Angebot an internationaler Filmkunst durch Filmmuseen und Szene-Kinos nicht ansatzweise vorhanden war; Walter Kirchner mit seiner Neuen Filmkunst und später Atlas Film haben hier wirkliche Pionierarbeit geleistet.

Die Plakate wurden damals teils in der gerade in Entstehung begriffenen Werkstatt für Serigraphie, teils im Buchdruck gedruckt, wobei die Bildelemente von uns in Linol geschnitten wurden und die Schrift im Handsatz mitlief. Die Beschränkung auf ein bis zwei Farben (bzw. Druckgänge) entsprach dem damals herrschenden Mangel, nicht etwa nur einer gestalterischen Vorliebe. Letzteres war jedoch der Fall bei einer ausgesprochenen Dominanz von Schwarz-Weiß-Kontrasten, bei denen der Einfluss von Hans Leistikow als Plakatmacher deutlich sichtbar wurde. Dabei zählte er nicht zu den Lehrern, die ihre Vorlieben als Gebrauchsanweisungen an ihre Schüler weitergaben, bei ihm fand keine stilistische Gängelung statt. Seine Lehre war, wie man heute sagen würde, konzeptioneller Art. Man lernte, wie man sich als Designer vernünftig verhalten sollte, dass Graphik-Design aus verschiedenen Blickwinkeln gesehen werden kann, unter anderem auch durch den Kopf des Auftraggebers denken wie er einmal in einem Brief an die studentischen Teilnehmer eines Wettbewerbs schrieb.

Seine Plakate hatte ich zum ersten Mal 1948 im Kasseler Landesmuseum gesehen. Der Eindruck seiner Ausstellung, in Verbindung mit dem Wunsch, bei Kay H. Nebel zu zeichnen, hatte mich bewogen, von der Staatlichen Schule für Handwerk und Kunst, an der ich zuvor studiert hatte, zur Werkakademie, der späteren Hochschule für bildende Künste, überzuwechseln.

Das erste, was mir an seinen Plakaten auffiel, war seine Vorliebe für den schwarzen Grund, auf dem häufig weiße Linien und in den Grundfarben gehaltene Flächen standen. Als Schrift verwendete er überwiegend eine halbfette Bodoni-Antiqua, die er mit Schablonen auftrug, vermutlich als Verfahren aus der Not der Zeit entstanden, da die technischen Herstellungsverfahren sehr eingeschränkt waren. Leistikow hatte den graphischen Reiz dieser Technik entdeckt, indem er sie mit der leichten Unregelmäßigkeit einer Handschrift einsetzte. Aus der Not wurde eine Tugend, aus ERSATZ entstand ein Mittel künstlerischen Ausdrucks. Diese seinen Plakaten eigene Verbindung von Elementen ergab die unverwechselbare Eigenart des typischen HAL-Plakats.

Leistikow war ein hagerer Mensch mit auffallend dunklen Augen, trug einen Bauhaus-Kurzschnitt und konnte auf Leute, die ihn nicht näher kannten, einschüchternd streng wirken. Wir jedenfalls mochten und verehrten ihn. Etwa ein Jahrzehnt später führte ich ein langes Gespräch mit befreundeten Kollegen, in dem wir uns über unsere jeweiligen Studien-Erfahrungen austauschten. Was ich von ihnen erfuhr, war fast ausschließlich negativ, und bei dieser Gelegenheit, im erneuten Rückblick und Vergleich, wurde mir wieder bewusst, in wie vielen Hinsichten ich dankbar sein kann, Hans Leistikow zum Lehrer gehabt zu haben.